Ein persönlicher Bericht zum Hochwasser in Dresden im August 2002
- aufgeschrieben von Jan Winkler -
Wetterbericht des Deutschlandfunks vom Sonntag, 11.August 2002, 20.00 Uhr:
Das Wetter: Im Südosten und anfangs im Norden unwetterartige Regenfälle. Sonst wechselnd
bis stark bewölkt mit Schauern und Gewittern. Tiefstwerte nachts 18 bis 10
Grad. Morgen im Osten teils sehr ergiebiger Regen. Im Westen wechselnd bewölkt
mit Schauern. 18 bis 24 Grad. Frischer Nordwestwind mit einzelnen Sturmböen.
Die Aussichten: Am Dienstag und Mittwoch im Norden teils wolkig aber meist trocken, sonst vielfach sonnig und warm.
Der Seewetterdienst Hamburg teilt mit: Deutsche Ostseeküste: vereinzelt Gewitterböen 8.
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Der Regen ist stark und erinnert an sehr ergiebige Gewitter, die sich nach einem langen,
schwülen Sommertag ergießen. Viele feine Fäden spinnen sich
vom einheitlich grauen Himmel gen Erdboden: Es regnet Bindfäden, wie
man so schön sagt. Im Sommer, nach einem staubig stickigen Tag, da sehnt
man sich mitunter nach solchen Erlösung bringenden Regengüssen.
Meistens dauern sie ja auch nur fünf bis zehn Minuten, dann dampft es
aus dem Wald, man hört vereinzelt noch die Tropfen von Bäumen und
Dachrinnen herabklatschen und nachdem man seine Sachen, die nach den wenigen
Minuten vollkommen durchweicht sind, gewechselt hat, kann man meist einem
milden Abend entgegensehen.
Heute, es ist Montag, der 12.August 2002, hört es jedoch nicht nach zehn
Minuten auf, zu regnen. Irgendwann in der Nacht muß es angefangen haben,
in der oben geschilderten Art und Weise. Nun, es ist morgens halb acht, muß
ich irgendwie zur Arbeit kommen und angesichts des geradezu abartigen Wolkenbruches,
der sich entlädt, entscheide ich mich, mich in "Vollschutz" auf mein
Fahrrad zu schwingen, um den kurzen Weg zur Universität zu absolvieren.
Das letzte Mal hatte ich mich am 10.September 2001 bei einer Radtour Richtung
Wien so einkleiden müssen und ich werde mich bald fragen, warum immer
irgendwelche Katastrophen eintreten, wenn ich zu diesem Ölzeug greife.
Einige Stunden später blicke ich am Arbeitsplatz aus dem Fenster: Es
regnet immer noch und zwar genauso, wie zuvor - in Sommergewittermanier.
Verrückt, wo nur das ganze Wasser hin soll, denke ich flüchtig,
und setze meine Arbeit fort. Bei Regen kann ich besonders gut arbeiten! Gegen
Mittag mache ich mich zur Mensa auf, aber die nur 100 Meter zu diesem Gebäude
reichen aus, um die Hose in der bekannten, unangenehmen Weise auf den Oberschenkeln
kleben zu lassen. Nach der Mahlzeit gehe ich hoch in das in der Mensa gelegene
Büro unseres Chores, um dort nach einem Fax zu schauen. Ich muß
feststellen, daß es es durch die Decke hindurchregnet - in die Programmhefte
des letzten Konzertes und den Drucker hinein. Eine schöne Bescherung,
der Hausmeister sagt, er wüßte nicht, wo er zuerst die Löcher
stopfen solle, so muß eine Eimer helfen.
Niederschlagsmenge in Liter pro Quadratmeter der letzten 12 Stunden am 12.08., 20.00 Uhr MESZ (Quelle: wetter-online)
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Wieder zurück am Schreibtisch gehe ich im unerbittlichen, gemütlichen
Trommeln der Regentropfen weiter meinen Aufgaben nach. Als ich mich gegen
Abend entscheide, das Tagwerk ruhen zu lassen, auf das Rad steige und nach
Hause fahren will, stelle ich fest, daß sich ein bräunlicher Wasserstrom
die Nöthnitzer Straße entlang ergießt. Die Kanalisation
scheint längst überfordert, und das Wasser kommt von den etwas
höher gelegenen Sportanlagen den kleinen Hang hinuntergeströmt.
Wirklich üppig, denke ich, aber irgendwie hat man so etwas ja schon mal ansatzweise
gesehen. Nur nicht, daß es so lange und vorallem so ergiebig geregnet
hat.
Ich weiß heute nicht mehr, was ich den Abend eigentlich gemacht habe,
auf jeden Fall komme ich gegen zehn Uhr noch einmal die Zwickauer Straße,
in der ich wohne, entlang und sehe einen Menschenauflauf an der Fußgängerbrücke
über die Weißeritz stehen. Dieser Fluß, der normalerweise
nur ein erbärmliches Rinnsal ist, fließt, durch eine Häuserzeile
getrennt, parallel zur Zwickauer Straße. Getrieben von der Neugierde
sehe ich nach dem rechten und muß feststellen, daß das Wasser
nur noch einen Handbreit unter der Uferkante steht. Die Strömungsgeschwindigkeit
ist beträchtlich, gelegentlich sieht man größere Äste
entlangschwimmen, die bei entsprechender Größe damit beginnen,
die Gasleitung über die Weißeritz zu rammen und deren Verkleidung
wegzureißen. Zwei Polizeibeamte kommen vorbei und kontrollieren die
gesperrte Brücke, sagen etwas über Funk durch. Ein wenig weiter
stromabwärts beginnen die Leute damit, Ihre am Ufer gelegenen Garagen
leerzuräumen. Irgendwie ist mir mulmig zumute, gehe aber zu Bett.
Brücke Altplauen von den Bahngleisen aus betrachtet
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Am nächsten Morgen, Dienstag, dem 13.August, wache ich zur üblichen
Zeit auf, schalte das Radio an. Ich höre, in Dresden sei Katastrophenalarm
ausgelöst worden. Sogleich taste ich nach dem Licht, aber es geht nicht
- Stromausfall. Also Katastrophe. Irgendwie konnte ich schon immer Stromausfällen
etwas abgewinnen. Als ich das Fenster öffne, kommt es mir vor, meine
Wohnung befände sich irgendwo im Gebirge an einem wilden Fluß:
Heftigstes Getöse schlägt mir entgegen. Nach dem Frühstück
kommt auch schon mein Mitbewohner, der im Frühaufstehen noch etwas disziplinierter
ist als ich, aufgeregt die Treppe empor, mich nach seinem gescheiterten Versuch,
mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, anweisend, umgehend die Kamera zu nehmen,
nicht lange zu fackeln und mich zur Weißeritz aufzumachen. Im Regenzeug
-schließlich schüttet es immer noch- will ich mich zur Brücke
Altplauen aufmachen. Aber weit komme ich nicht. Nicht nur, weil kurz vor
der Eisenbahnüberquerung und dem S-Bahnhof das Wasser steht, sondern
weil mir der Anblick schlicht und ergreifend den Atem verschlägt. Von
der Brücke ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen türmt sich ein
riesiger Berg an schäumendem Wasser vor der vollständig überfluteten
Brücke auf. Immer wieder rasen Baumstämme den entfesselten Fluß
entlang, krachen gegen die Konstruktion, bäumen sich auf und verschwinden
wieder. Die Masten der Telefonleitung sind angeschlagen, einer bricht mit
einem lauten Knall, die restlichen an der Leitung mit sich reißend.
Ich versuche, ein paar Aufnahmen zu machen. Da der Zugverkehr eingestellt
zu sein scheint, gehe ich über die Gleise, kämpfe mich durch das
Dickicht zur Bienertmühle, einer alten Industriebrache, vor. Von dort,
aus dem fünften Stock, hat man einen prima, wenn auch erschütternden
Ausblick: Das Wassser hat sämtliche Straßen in der Umgebung in
Beschlag genommen und strömt mit beängstigender Gewalt in die gesamte
Innenstadt hinein.

Blick vom Hohen Stein
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Noch schlimmer
ist der Blick vom Hohen Stein, einer Anhöhe über dem Plauenschen
Grund, der wiederum eine nicht allzu enge Schneise durch ein Gebirgsmassiv
darstellt und die Weißeritz beherbergt: Von der einen Gebirgsseite
zur anderen ist alles ein einziger Fluß, der gnadenlos alles mit sich
reißt, was nicht niet und nagelfest ist. Wie hatte man seinerzeit den
Wasserkraftwerkerbauer belächelt, als er mit der Idee Ernst machte,
aus dem Bächlein Weißeritz Strom gewinnen zu wollen. Nun guckt
nur noch das Spitzdach seines Turbinenhauses aus dem tosenden Fluten heraus.
Die Polizei sagt, das Wasser würde bis zum Mittag noch
einen ganzen Meter steigen - dann würde auch die gesamte Zwickauer Straße
unter Wasser stehen. So packe ich verdrießlich meine nötigsten
Sachen, wehleidig an die 40 Zentner Brickets im Keller denkend, die dort gerade
für den Winter gebunkert worden waren. Aber es hilft ja alles nichts.
Auf Arbeit fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Ein Großteil
der Leute ist gar nicht erst erschienen, denn die übeflutete Weißeritz
teilt Dresden gewissermassen in zwei Hälften, denn sämtliche Brücken
sind gesperrt, überflutet oder eingestürzt. Wie ich erfahre, sind
die Talsperren Malter und Klingenberg, die die Rote bzw. die Wilde Weißeritz
speisen, übergelaufen bzw. würden kontrolliert abgelassen, wie
es so schön heißt. Die Folgen sehen wir ja. Doch zu diesem Zeitpunkt
weiß ich noch nicht, was sich in der Dresdner Innenstadt abspielt.

An dieser Stelle floss die Weißeritz zurück in ihr altes Flußbett, indem sie einfach den Weg von rechts nach links über die Böschung nahm
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Früher floß die Weißeritz ziemlich schnurstracks durch die Stadt und
ergoß sich in der Nähe der Marienbrücke in die Elbe. Irgendwann
hat man sie umgeleitet, kurz hinter der Nossener Brücke verläßt
sie nun im rechten Winkel ihr altes Flußbett und mündet, fein säuberlich
kanalisiert, zwischen Friedrichstadt und Cotta in die Elbe. Klar, daß
sie bei diesen Wassermassen relativ wenig Interesse daran hat, 90-Grad Kurven
zu nehmen, Wasser ist schließlich bequem. Also geht es hemmungslos
am rechten Winkel geradeaus weiter, über die alte Glasfabrik und den
Kohlenbahnhof auf die Abstellanlagen und damit in die Innenstadt. Abgesehen
von der Tatsache, daß durch den hohen Wasserstand ohnehin auch in der
Breite alles überflutet ist. Die Tharandter-, Hofmühlen- und nördliche
Zwickauer Straße verwandeln sich in Nebenarme, so daß das Unglaubliche
eintritt: der Hauptbahnhof wird überflutet.

Gefluteter Tunnel vor dem Hauptbahnhof
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Gerüchten zur Folge soll es nur wenige Minuten gedauert haben, bis das Gebäude meterhoch
unter Wasser stand. Das Wasser quoll sodann aus den engen Eingangstüren
sturzbachartig in die Innenstadt hinein: Wiener Platz, der Tunnel, die Prager
Straße - alles überflutet. Abends mache ich mir selbst ein Bild:
Kaum zu glauben, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Die Säle des Rundkinos, die Keller der Wohnheime - ein
Opfer der Wassermassen. Der Dr. Külz-Ring ist ein Fluß und aus
den Türen des Karstadtgebäudes ergießt sich leicht und zart
ein dünner Film von Wasser, der darauf hindeutet, daß auch dort
alle drei Untergeschosse geflutet sind und somit einer der wesentlichen Einkaufsorte
in Dresden ausfällt. Die Stadt gleicht einem Chaos, Hubschrauber sind
immer noch damit beschäftigt, das Krankenhaus Friedrichstadt zu evakuieren,
dessen Notstromversorgung ausgefallen ist. Den Stadtteil hat es am härtesten
erwischt - und zu diesem Zeitpunkt weiß noch keiner, daß es für
diesen noch schlimmer kommen wird.
Weiter Richtung Ammonstraße strömt das Wasser am World-Trade-Center
vorbei über die Freiberger Straße Richtung Postplatz, flutet diesen
Verkehrsknotenpunkt sowie die Schwimmhalle. An der Marienbrücke, in
der Nähe des alten Kühlhauses lassen sich die Evakuierungsarbeiten
mit Hubschraubern im benachbarten Stadtteil gut beobachten. Ein Pärchen
tritt auf mich zu, fragt nach einem Telefon, da sie sich noch gerade mit
dem nötigsten Hab und Gut aus ihrer Wohnung haben retten können.
Ich kann mit meinem Handy aushelfen, so daß sie Bekannte informieren
können. Das Handy wird auch für den Rest der Woche die einzige
Möglichkeit sein, nach außen Kontakt aufzunehmen, da weite Teile
des Dresdner Telefonnetzes zusammengebrochen sind. Auch die Hilfseinsätze
werden über die Funknetze koordiniert, so daß es schnell zu Engpässen
kommt und die Bevölkerung aufgerufen wird, private Gespräche auf
ein Minimum zu reduzieren.

Fluß Dr.-Külz-Ring
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Abends, nachdem ich meine Bilder in der Uni -dem einzigen für mich zugänglichen
Ort mit Strom- von der Kamera auf meinen Rechner geladen und für das
Internet vorbereitet habe, mache ich mich nach Hause. Es ist stockfinster
- keine einzige Straßenlaterne leuchtet, die Fenster der Häuser
starren wie dunkle Augenhöhlen von Totenschädeln belanglos in die
Nacht. Mein Stadtteil ist von der Polizei abgeriegelt, man muß
sich ausweisen, um zu seiner Wohnung zu kommen. Vermutlich eine Vorsichtsmaßnahme,
um Plünderungen wegen der Dunkelheit zu verhindern. Die Weißeritz
ist mitlerweile wieder etwas ruhiger geworden und auch nicht so hoch gestiegen,
daß sie unser Haus erreicht hätte. Der erste Katastrophen-Tag
geht im Schein der Gaslaterne zuende. Ich habe wirklich Glück gehabt.

Überlauf Talsperre Malter am Montag, 12.08.2002 (Foto: Talsp. Malter)
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Einen Tag später, am Mittwoch, geht die Meldung durch, die Talsperre
Malter sei gebrochen. Dies hätte mit Sicherheit die Zerstörung weiter
Teile Freitals sowie Dresden-Plauens zur Folge gehabt. Polizeiwagen fahren
durch die Zwickauer Straße und fordern zum sofortigen Verlassen der
Häuser auf. Panik breitet sich unter den Bewohnern des Stadtteiles aus.
Wie sollen wir das alte Ehepaar aus dem dritten Stock unseres Hauses in Sicherheit
bringen, von dem der Mann nicht mehr recht laufen kann? Zehn Minuten später
fährt die Polizei erneut durch die Straße: Es habe sich um eine
Fehlinformation gehandelt. Wieder einige Minuten später wird diese Nachicht
widerrufen: Doch ein Bruch, rette sich wer kann. Das totale Chaos, aber letztendlich
doch nur eine Fehlmeldung.

Überlauf Talsperre Malter am Montag, 12.08.2002 (Foto: Talsp. Malter)
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Die Informationspolitik läßt insgesamt zu Wünschen übrig.
Nicht, daß irgendjemand erwartet, in so einer Ausnahmesituation könne
alles reibungslos ablaufen, aber insgesamt ist es doch schwierig, zu erfahren,
was konkret los ist: Die Nachrichten des Deutschlandfunks sind viel zu allgemein,
sicher, Dresden, als bekannte Stadt, steht im Zentrum aller Berichterstattung,
insbesondere auch wegen der spektakulären Rettungsaktion der Gemälde
aus den Magazinen des Dresdner Zwingers und dem komplett vernichteten Fundus
an Kulissen des Schauspielhauses, aber etwas über Verhaltensmaßregeln
oder dergleichen ist dort verständlicherweise nicht zu erfahren. Sender
wie Radio PSR oder Radio Dresden dudeln ihre Konserven runter als gäbe
es nichts besonderes zu berichten. Einen guten Kompromiss stellt das Nachrichtenradio
mdr-info dar. Häufig wird auf das Internet verwiesen. Der dort eingerichtete
Informationsservice der Stadt Dresden ist zwar vorbildlich, doch was nutzt
einem das Internet, wenn man keinen Strom geschweige denn Telefon hat?
Am Nachmittag dieses Mittwochs mache ich mir ein Bild von den immensen Schäden, die
die Weißeritz alleine in meiner Umgebung angerichtet hat. Die Bilder dieser Site mögen dies besser dokumentieren,
als alle Worte. Viel Kritik prasselt auf die Landestalsperrenverwaltung nieder.
Man hätte früher damit beginnen müssen, Malter und Klingenberg
abzulassen. Doch angesichts der Regenmengen am Montag wird niemand ernsthaft
den Talsperren die alleinige Schuld geben können, fiel doch mancherorts binnen
24 Stunden der halbe Jahresniederschlag. Es heißt, in Klingenberg
hätte man eine Woche zuvor mit dem Ablassen beginnen müssen, um
der Wassermassen Herr zu werden. Sicherlich problematischer: In Malter stand
das Talsperrenfest an, weshalb man den Pegel wohl -trotz der ungünstigen
Wetterprognosn- sehr hoch gehalten hatte.

Zerstörte Bahnstrecke nach Tharandt. Im Hintergrund die neue
Autobahnbrücke über den Plauenschen Grund (Foto: Deutsche Bahn AG)
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Wie dem auch sei, Dresden sollte noch schlimmeres bevorstehen,
denn aus Prag rollte eine gewaltige Flutwelle an. Was zunächst abstrakt
klang, wurde von Stunde zu Stunde immer bedrohlicher. Im Laufe des Donnerstages,
15. August 2002, -nachwievor sind weite Teile der Stadt ohne Strom und es
beginnt, nach Fisch, Öl und Muff zu stinken- wird klar, daß das
Wasser nie erreichte Pegelstände erreichen wird. Stadtteile, die nach
dem Rückgang der Weißeritz gerade wieder trockengelaufen sind,
sind erneut bedroht. Von über acht Metern ist die Rede - was das konkret
bedeutet, weiß niemand so recht, nur, daß es alles bisher dagewesene
in den Schatten stellen wird.
Am Abend des Donnerstages mache ich mich zu einer der Sandsackabfüllstationen
in der Nähe von Reick auf. Dort fahren auf einem städtischen Bauhof
LKWs den Sand an, der von vielen freiwilligen Helfern in Säcke geschaufelt
wird, die dann auf andere LKWs verladen und zu den zu verteidigenden Stellen
transportiert werden. Die Arbeit ist recht monoton, entweder steht man in
einer der Menschenketten, die die Säcke zu den LKWs transportieren oder
man schaufelt oder knotet die Säcke zu. Die Zeit vergeht freilich schnell.
Hunger und Durst kann man in der Kantine des Bauhofes stillen, wo einige
Damen belegte Brote schmieren, Joghurt und Salat anbieten sowie verschiedene
Getränke zur Auswahl haben. Gab es anfangs Probleme mit der kontinuierlichen
Sandanlieferung, so werden kurz vor Mitternacht die Säcke knapp. Von
der BASF in Schwarzheide kommen zunächst völlig ungeeignete, riesige
Tüten mit vielleicht 300 Liter Fassungsvermögen, dann geht gar nichts
mehr. Ratlosigkeit bei den Organisatoren des Katastrophenschutzes, Resignation
bei den Helfern, von denen aus Mangel an Arbeit viele gehen.
Am nächsten Tag läuft es viel besser. Es sind wieder ausreichend
Säcke vorhanden. Teilweise sollen sie gar aus den Niederlanden und der
Schweiz angeliefert worden sein. Man gewöhnt sich an die monotone Arbeit
und lernt die unterschiedlichen "Sackarten" zu schätzen oder zu verachten:
Völlig ungeeignet sind zum Beispiel die großen Säcke von Südzucker,
die häufig zu stark befüllt werden und damit nicht mehr transportabel
sind. Angenehmer zum Knoten sind die kleinen weißen Säcke mit
angeheftetem Bänzel, welche aber wegen der kleinen Öffnung schwer
zu befüllen sind. Besser zu befüllen aber schwieriger zu verknoten
sind die Jutesäcke, denn häufig verheddert sich das mitunter viel
zu lange Bändchen. Know How Gewinn am Rande einer Katastrophe.
Häufig bilden sich eingespielte Gruppen, die bestimmte Aufgaben übernehmen.
Beispielsweise fülle ich eine Zeit lang gemeinsam mit einem Mann und
dessem vielleicht sechsjährigen Sohn Säcke ab: Der Knirps faltet
die Säcke auseinander, reicht sie mir, so daß ich sie zum Befüllen
durch den Vater aufhalten kann, um sie schließlich nach hinten zum Verknoten
zu geben. Ein eingespieltes Trio! Arbeitsorganisation am Rande einer Katastrophe.
Überhaupt trifft man hier viele Leute aller Couleur: So steht plötzlich
in einer Menschenkette neben mir einer meiner ehemaligen Chemieprofessoren.
Später schaufele ich mit einem Schlagzeuger aus einem unserer Konzerte
mit dem Universitätschor. Jeder will halt irgendwas beitragen. Eine zeitlang
arbeite ich mit einem Mädel zusammen, die erzählt, sie habe in Blasewitz,
wo sie wohnt, Striche in vierzig Zentimeterabständen auf die Straße
gemalt, von denen stündlich einer durch das Wasser genommen würde.
Wieder eine kleine Information über den Sachstand, denn ansonsten erfährt
man hier nicht viel. Das Mädel hat lauter narbenähnliche Streifen
auf den Innenseiten Ihrer Arme. "Ob sie eine Ritzerin ist?", denke ich, wage
aber nicht zu fragen. Stattdessen klingelt bei ihr das Handy - die Arbeit
muß unterbrochen werden, aber sie kann abwimmeln. "Eine Freundin aus
München", gibt sie zu verstehen, "meistens weint sie sich bei mir über
ihre Probleme aus." Ich erwidere, vielleicht könnte diese sich ja ob der
desolaten Hochwasserlage bei ihr revanchieren. "Auf Revanche warte ich schon
seit drei Jahren", werde ich unterrichtet - Dramen, am Rande einer Katastrophe.
Die Versorgung der Helfer ist mitlerweile in erstaunlichem Umfange ausgebaut
worden: In der Kantine türmen sich Berge von Lebensmitteln und Getränken.
Auch viel unsinniges Zeug, beispielsweise Biskin Bratenfett. Pizza-Services
und Dönerbuden schaffen ihre Delikatessen heran, Coca-Cola fährt
mit zwei Wagen vorbei und bringt seine eisgekühlte Limonade in der glühenden
Sonne unter die Leute. Appropos: Das Wetter meint es wirklich gut. Nicht
auszudenken, wie die Situation wäre, wenn das Hochwasser im Herbst oder
Winter stattgefunden hätte, denn in ganz Dresden ist an Heizen wegen
fehlenden Stromes und Fernwärme (das Heizkraftwerk Nossener Brücke,
das Dresden versorgt, ist auch unter Wasser gesetzt worden und damit ausgefallen)
nicht zu denken. Dennoch gewinne ich mehr und mehr den Eindruck, daß
das Ganze zunehmend zum Volksfest verkommt: In einer Ecke der Kantine sehe
ich einen Mann aus einem Schälchen Kaviar zu sich nehmen. Auf den vielen
Lastern spielen sich die Leute auf, als seien sie glücklich, endlich
einmal Oberkommandant spielen zu dürfen. Es wird auch immer voller und
an Koordination ist immer weniger zu denken. Nach einem erneuten Sandsackengpass
kommt irgendwann eine große Lieferung von großen, grauen, flexiblen
aber im wesentlichen quaderförmigen Plastikbehältnissen, die wir
befüllen sollen. Was der Unsinn soll, ist völlig unklar, denn dichte
Dämme lassen sich mit diesen Behältnissen, die vermutlich mal dazu
gedacht waren, kleine Steine für die Pflasterung von Gehwegen zu transportieren,
sicherlich nicht bauen. Im Nu sind die mit dem Schriftzug "VEB Vegro - Kirschau,
Leihverpackung" bedruckten monströsen Einheiten mit Sand befüllt
- und können nicht mehr bewegt werden. Der ganze Hof steht voll davon,
nur noch Laster mit einem Kran daran können die Behältnisse bewegen.
Ziemlich absurd und erneut steht man arbeitslos da, so daß ich beschließe,
die Aktion abzubrechen.

Verzerrte Perspektiven an der Elbe (Foto: P.Hofmann)
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Mit einem Kumpel entschließe ich mich, an die "Front" zu fahren, um
zu schauen, wie die Lage ist, nach der Schufterei darf man schließlich auch mal gaffen.
Der Weg zur Elbe ist nicht so einfach, da viele Straßen durch das Wasser
versperrt sind. Der Große Garten steht noch von der Weißeritz
unter Wasser, dauernd begegnen einem Fahrzeuge mit Blaulicht, die zu ihren
Einsatzorten eilen. Sandsacktransporter mit gröhlenden Möchtegern-Organisatoren
drauf lassen meinen Kopf schütteln. Je näher man an die Elbe kommt,
desto häufiger trifft man auf das Knattern von mobilen Pumpaggregaten,
die irgendwelche Keller auspumpen. Am St. Benno Gymnasium kämpfen die
Einheiten gegen ein Aufschwimmen und Auseinanderbrechen des Gebäudes.
An der Albertbrücke angekommen liegt die Elbe gespenstisch ruhig dahinfließend
vor einem. Die Breite des Stromes ist schier unglaublich. Es riecht nach
Öl und es ist sehr diesig. Der Blick auf das barocke Zentrum Dresdens
existiert nicht mehr, denn die gesamte Innenstadt ist ohne Strom, so daß
keines der Gebäude angestrahlt ist. Eine Geisterstadt, möchte man
meinen. Als ich in der gestrigen Nacht an der gleichen Stelle war, tastete ein Scheinwerfer
über das Wasser elbaufwärts. Die Elbfähre Johannstadt hatte
sich losgerissen und trieb führerlos auf die Brücke zu, hielt im
Strömungsgleichgewicht vor den Pfeilern kurz an und wurde dann mit einem
Male rumgerissen und trieb unter der Brücke hindurch. Später, an
der Augustusbrücke sah ich die Fähre erneut, sie krachte an die
Brücke, deren Rundbögen nur noch etwa einen Meter aus dem Wasser
ragten. Das Schiff tänzelte vor diesen Rundbögen hin und her und
wurde mit einem Male, begleitet von einem markerschütterndem, kreischendem
Geräusch von auf Stein entlangschürfendem Metall, unter dem Bogen
hindurchgerissen und dabei fast vollständig untergetaucht.

Am Gohliser Elbufer angespülte Johannstädter Elbfähre
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Jetzt liegen alle Schiffe friedlich da, die Weiße Flotte
ist sicher verteut. Am Elbkino ist das Wasser bis zu den obersten Reihen
emporgestiegen, die Bühnenkonstruktion ist arg lädiert, aus der
Leinwand sind einige Platten hinausgebrochen. An der Augustusbrücke angelangt
muß ich feststellen, daß das Wasser bereits auf die Straße
durch die aufgeschichteten Dämme hindurchdringt. Die Brücke an
sich ist von dieser Seite nicht mehr zu betreten, da sie dort unter Wasser
steht. Durch die Unterführung zur Hauptstraße droht das Wasser
in die Neustadt einzudringen, es fehlt nur noch eine Treppenstufe. Ich frage
mich, was diese Dämme überhaupt bringen, wenn das Wasser eh einfach
so durchläuft, als ob sich ihm nichts in den Weg stellen würde.
Ich fahre auf der neustädter Seite weiter zu Marienbrücke, die gesperrt
ist, da auf der gegenüberliegenden Seite alles geflutet ist - die Friedrichstadt
steht erneut meterhoch unter Wasser, die Baustelle des neuen Kongresszentrums
am Erlweinspeicher ragt klagend aus den Fluten, wurde sie doch im Winter
bereits zweimal geflutet. Ich frage mich, wie das dort einmal werden soll...
Die Marienbrücke ist akut einsturzgefährdet, wie zu erfahren ist.
Aus diesem Grunde hat die Deutsche Bahn AG sechs schwere Diesellokomotiven
genau über den drei Strompfeilern platziert, die mit ihren insgesamt
720 Tonnen Gewicht zu einer Stabilisierung des Bauwerkes beitragen sollen.
Das Unterfangen gelingt, die Brücke bleibt erhalten. Einige Wochen später
wird in einer Stadtratsitzung von den verantwortlichen Bauingenieuren hingegen
festgestellt werden, daß die noch zu bauende Waldschlößchen-Brücke
-eines der absurdesten Projekte Dresdens- mit ihrer gewagten v-förmigen
Bogenkonstruktion dem Wasserdruck nicht standgehalten hätte und eingestürzt
wäre. Leider nicht eingestürzt ist die neue Autobahnbrücke
über die Weißeritz, die den Plauenschen Grund nachhaltig verschandelt.
Auf der altstädter Seite mache mich auf zur Frauenkirche, in deren Keller
das Wasser einzudringen beginnt. Das Wasser hat die gesamte Münzgasse
überflutet und sickert durch den Damm vor dem Neustädter Markt.
Auf dem Theaterplatz ist es wahrlich gespenstisch, kein einziges Licht leuchtet,
die Verteidigung der Oper und des Zwingers wurde aufgegeben, denn selbst wenn
man alles von der Elbe her abdichten würde, so dringt das Wasser doch
von hinten über die Ostraallee in die Gebäude ein, abgesehen vom
hochdrückenden Grundwasser. Es ist so schwarz, daß man die Hand
kaum vor Augen sehen kann, die Schinkelwache sieht aus wie ein verlassener
griechischer Tempel. Klar, aber so ist einem das bei Licht nie aufgefallen.
An der Hofkirche stehend ragt der Theaterkahn ein Stockwerk über einem
in die Höhe, schon x-mal besucht, nehme ich heute das erste Mal den Namen
dieses Schiffes, das ja sonst viel, viel tiefer liegt, wahr: Es heißt
"Marion". Vor mir liegt eine Wasserfläche die in einer Ebene eine direkte
Verbindung zum gegenüberliegenden Regierungsviertel schafft: Die gewohnten
Perspektiven sind total verzerrt.
Ich mache mich auf nach Hause, wähle den Weg über die Prager Straße.
Auch hier ist alles vollkommen dunkel, keine einzige Straßenlaterne,
keine Werbung, nichts. Eine eindrucksvolle, schauderhafter Stimmung. Patroullien
bewachen das Karstadtgebäude, das offensteht und gerade leergepumpt wird.

Aufräumarbeiten
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Am nächsten Vormittag, Samstag, den 17.08., wird der Scheitelpunkt
des Hochwassers von 9,40 Metern erreicht. Dannach entspannt sich die Lage
schnell und die Schäden werden von Stunde zu Stunde sichtbarer. Was Dresden
die nächsten Tage und Wochen prägen wird, sind die Aufräumarbeiten.
Unterspülte Gleise haben das Nahverkehrsnetz nachhaltig zestört,
überall türmt sich der aus überfluteten Kellern emporgeholte
Sperrmüll an den Straßenrändern. Die gesamte Innenstadt wird
vom Geräusch laufender Notstromaggrgate erhallt. Hinzu kommt das nicht
ausbleibende Gezänk über die Auszahlung der Hilfsgelder. Die Bedingungen
sind recht rigide, viele Leute gehen leer aus und stehen mit nichts da.

Notherd aus Joghurt-Gläsern, Teelichtern und einem Backrost (Foto: P.Hofmann)
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Wenn ich im nachhinein an die Tage dieser Woche denke, so war ich das erste Mal mit einer richtigen Katastrophe konfrontiert, die unglaublichen Anblicke, die angespannte Stimmung, die durch das dauernde Lärmen von Hubschraubern, Krankenwagenkolonnen und Notstromaggregaten angeheizt wurde, die Hilflosigkeit der Naturgewalt gegenüber sind nie gekannte Eindrücke. Erst einige Tage zuvor hatte ich mich mit jemandem über Katastrophen und Endzeitszenarien unterhalten. Dabei kam eine Untersuchung zur Sprache, nach der der Ausfall von Energie für fünf Tage in einem zivilisierten Land zum Bürgerkrieg führen würde. Und tatsächlich war es während des Hochwassers so, daß Absperrungen selten eingehalten wurden und die Hamsterkäufe sehr schnell anliefen. Wie häufig griff ich instinktiv zum Lichtschalter, wenn es mir zu dunkel war, um dann festzustellen: "Ach ja, es gibt ja keinen Strom!" Der diffuse Gedanke, eigentlich immer einen kleinen Notvorrat haben zu müssen, wurde während dieser Tage insofern wieder aktuell, als daß man einräumen mußte, diesen nun doch nicht angelegt zu haben. Die Solidarität von so vielen Seiten als auch der Zusammenhalt der Leute untereinander war wirklich beeindruckend, ärgerlich hingegen sicherlich die politischen Diskussionen und die Einarbeitung des Themas in den Wahlkampf. Bleibt zu hoffen, daß man sich dieser Ereignisse möglichst lange erinnert.
Alle Fotos, sofern nicht anders angegeben, von Jan Winkler
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